Interview: Zusammenfassung der GTH 2022 und Stand der Gentherapie bei Hämophilie
Hallo Tanja, kannst du bitte kurz erklären, wer du bist und was du bei der ABF-Apotheke machst?
Gerne. Mein Name ist Tanja Meerbrei. Ich arbeite seit Oktober 2021 für die ABF-Apotheke im Außendienst für Spezialtherapeutika. In diesen Bereich fällt auch die Hämophilie als eine der seltenen Erkrankungen.
Ihr habt als Team die diesjährige GTH in Leipzig besucht. Wofür steht GTH und was ist das?
Dabei handelt es sich um die Jahrestagung der GTH – der Gesellschaft für Thrombose- und Hämostaseforschung e. V.. Das ist eine gemeinnützige Organisation und Fachgesellschaft, die sich unter anderem für die Forschung im Bereich der Blutgerinnung engagiert.
Welche Aussteller und Besucher waren bei der GTH vor Ort?
Bei den Ausstellern handelte es sich allen voran um Hersteller und Pharmafirmen aus den Bereichen der der Hämophilie oder Labordiagnostik. Als Besucher waren vor allem Ärzte aus verschiedenen Fachrichtungen, aber auch medizinische Fachangestellte und Patientenorganisationen vertreten.
Die GTH ist eine reine Fachveranstaltung, heißt, dass keine Patienten vor Ort waren. Denn Ziel und Zweck der Jahrestagung ist vor allem der fachliche Austausch und die Weiterbildung.
Übrigens: Auch für Patienten gibt es Weiterbildungsmöglichkeiten
Im Rahmen der GTH 2023 im nächsten Jahr ist auch ein Patiententag geplant, an welchem sich Patienten über den neuesten Stand der Behandlung und Forschung informieren können.
Die GTH 2023 wird in Frankfurt am Main stattfinden, der Patiententag ist für Freitag, den 24.02.2022 geplant – abonnieren Sie unseren Newsletter, wir halten Sie auf dem Laufendenzu Veranstaltungen für Patienten.
Was habt ihr von der ABF-Apotheke bei der GTH gemacht?
Als Fachapotheke für Hämophilie waren wir das erste Mal mit einem eigenen Stand dabei, um unsere Apotheke und unsere besonderen Leistungen für Patienten und Ärzte vorzustellen. Es war auch sehr schön, Mitarbeitende aus anderen Apotheken zu treffen und Gespräche mit Ärzten sowie Fachpersonal zu führen. So konnten wir gut erklären, wer wir sind und was wir machen. Und natürlich konnten auch wir uns im Rahmen der GTH fachlich weiterbilden.
Kannst du uns einen groben Überblick zu den bei der GTH behandelten Themen geben?
Das ist wirklich schwierig. Es waren sehr viele interessante Themen dabei. Es ging sehr viel um die Bereiche Thrombose, Hämostase und Labormedizin. Aber auch die Notfallmedizin in Bezug auf Blutgerinnungsstörungen oder veränderte Blutgerinnung (zum Beispiel durch Tabletteneinnahme) war ein spannender Aspekt. Außerdem standen viele interdisziplinäre Themen im Vordergrund.
Was war für dich das wichtigste Thema, das du von der GTH mitgenommen hast?
Als studierte Zell- und Molekularbiologin mit dem Schwerpunkt der Humangenetik war für mich das Thema Gentherapie besonders interessant. Denn es gibt neue Studien zu Gentherapeutika in der Hämophilie, die schon relativ weit fortgeschritten sind. Die Vorträge dazu habe ich mir gezielt angehört.
Kannst du die Gentherapie kurz in einfachen Sätzen erklären?
Man muss wissen, dass es sich bei Hämophilie um eine monogene Erbkrankheit handelt, heißt, es gibt einen Defekt in einem Gen, aufgrund dessen der benötigte Gerinnungsfaktor nicht mehr produziert wird. Genau hier greift die Gentherapie ein, im Falle der Hämophilie in den Leberzellen, denn in der Leber werden die Gerinnungsfaktoren gebildet. Die Gentherapie sorgt dafür, dass bestimmte Informationen in die Zellen eingeschleust werden, damit der betroffene Gerinnungsfaktor wieder produziert werden kann. Bedeutet also, die Zellen, die eigentlich keinen Gerinnungsfaktor produzieren können, werden durch die Gentherapie so verändert, dass sie wieder zur Gerinnungsfaktorherstellung in der Lage sind und so auch wieder eine Blutgerinnung möglich ist.
In welcher Form erfolgt die Behandlung bei einer Gentherapie?
Die Gentherapie kann unterschiedlich erfolgen, zum Beispiel durch eine einmalige Infusion in die Vene. Eine dauerhafte intravenöse Medikamentengabe ist bei einer Gentherapie in der Regel nicht nötig. Die Resultate auf das Ansprechen der Therapie sind jedoch von Patient zu Patient sehr unterschiedlich.
Warum kann die Gentherapie bei Hämophilie sinnvoll sein?
Der größte Vorteil liegt darin, dass eine erfolgreiche Gentherapie das Potenzial hat, das dauerhafte Spritzen von Faktorpräparaten zu ersetzen. Ob das funktioniert, hängt vor allem von der individuellen Wirksamkeit ab.
Wie lässt sich der aktuelle Forschungsstand bei der Gentherapie für Menschen mit Hämophilie beschreiben?
Man muss sagen, dass Gentherapeutika allgemein schon für andere Therapiefelder zugelassen sind, zum Beispiel bei der spinalen Muskelatrophie (SMA) oder für die schwern Erbkrankheit ADA-SCID. Es handelt sich also nicht um die ersten Gentherapien überhaupt. Trotzdem ist das Themenfeld der Gentherapien im Behandlungsfeld der Hämophilie noch sehr neu. Derzeit gibt es einige Studien zur Gentherapie bei Hämophilie, die meisten davon sind international. Eine Zulassung der Therapeutika ist noch nicht konkret absehbar. Zwar sind manche Mittel schon eingereicht, das heißt aber noch nicht, dass sie die Zulassung auch sicher erhalten.
Ist die Gentherapie eher für Menschen mit Hämophilie A oder Hämophilie B geeignet?
Da muss man ganz klar differenzieren. Bei Hämophilie A liegt ein Faktor VIII-Mangel vor. Bei Hämophilie B ist hingegen der Faktor IX-Mangel der Grund für die verminderte Blutgerinnung. Das macht die Gentherapie natürlich schwieriger, weil es keine einheitliche Behandlung für die verschiedenen Hämophiliearten gibt. Es gibt jedoch eine ganze Reihe aktuell laufender Studien für beide Formen der Hämophilie.
Gibt es konkrete Studien zur Gentherapie, an denen Hämophilie-Patienten teilnehmen können?
Es gibt dazu tatsächlich Studien in Deutschland, die auch noch laufen. Wenn man Interesse an einer Teilnahme hat, informiert man sich am besten über das betreuende Hämophiliezentrum und fragt, ob sie entsprechende Kontakte haben oder selbst Studien am Zentrum durchgeführt werden.
Welche Voraussetzungen gibt es zur Studienteilnahme?
Aktuell gibt es hauptsächlich Studien für Erwachsene ab 18 Jahren. Es wird später auch Studien für Kinder oder Jugendliche geben. Außerdem muss eine schwerere Form der Hämophilie vorliegen, sodass eine Gentherapie überhaupt sinnvoll ist. Den genau diese Patienten mit schwerer Hämophilie könnten von der Gentherapie am meisten profizieren.
Wichtig für einige, aber nicht alle Studien kann sein, dass die teilnehmenden Patienten keine Hemmkörper haben, und keine anderen schweren Erkrankungen, die die Studienergebnisse beeinflussen könnten. Alle weiteren individuellen Teilnahmevoraussetzungen müssten mit dem Studienleiter der konkreten Studie abgesprochen werden.
Wie würde so eine Studienteilnahme für den Hämophilie-Patienten aussehen?
Dazu kann ich nur sehr grobe Einblicke geben, da das natürlich sehr individuell von der jeweiligen Studie abhängt. In der Regel gibt es eine sehr engmaschige Überwachung des Patienten, was Wirkungen und Nebenwirkungen betrifft. Es ist daher ratsam, dass der Patient in der Nähe des Forschungszentrums wohnt oder durch ein anderes wohnortnahes Zentrum mitbetreut wird. Die Studienteilnahme geht also für den Teilnehmer mit regelmäßigem Kontakt und auch einer hohen Verantwortung einher. Besprechen Sie das am besten vorab mit Ihrem betreuenden Arzt.
Welche Erkenntnisse gibt es bislang zu den möglichen Nebenwirkungen einer Gentherapie bei Hämophilie?
Die Gentherapie für Hämophilie wirkt hauptsächlich in der Leber, daher kann es als Nebenwirkung zu erhöhten Leberwerten kommen. Das muss unbedingt bedacht und überwacht werden, damit gegebenenfalls eingegriffen werden kann. Meistens ist dann die Gabe von Glukokortikoiden nötig.
Aber auch allgemeinere und unspezifische Nebenwirkungen (wie Kopfschmerzen) können durch die Gentherapie auftreten.
Außerdem ist im Bereich der Wirkung beziehungsweise Nebenwirkungen ganz klar zu sagen, dass die Ergebnisse einer Gentherapie sehr variabel sind. Es ist vorab nicht klar, welche Ergebnisse für den einzelnen Patienten herauskommen werden und wie lange die gewünschte Wirkung anhält. Das können zwar mehrere Jahre sein, ist aber grundsätzlich schwer zu sagen.
Wann ist die erste Gentherapie geplant, die außerhalb von Studien angewandt werden kann?
Es gibt zwei Therapien, die sich gerade im Zulassungverfahren befinden. Im Optimalfall erhalten diese die Zulassung. Somit könnten die ersten Gentherapien noch Ende dieses Jahres verfügbar sein, sofern die Zulassung erteilt wird. Einen festen Starttermin für diese Behandlungsoption gibt es jedoch noch nicht. Die Gentherapien werden auch erst einmal nur in spezialisierten Hämophiliezentren und für einen bestimmten Patientenkreis verfügbar sein.
Welche Herausforderungen siehst du in der Gentherapie bei Hämophilie?
Wie schon erwähnt ist die langfristige Wirksamkeit der Gentherapie noch nicht bekannt. Das löst bei vielen Patienten Unsicherheit aus. Ein anderer Punkt ist die engmaschige Kontrolle, die mit der Gentherapie einhergeht. Dem Patienten muss bewusst sein, dass hinter dieser Behandlung neben den großen Chancen auch ein gewisser Aufwand und eine Verantwortung für ihn steckt.
Wie schätzt du als pharmazeutische Expertin die zukünftige Entwicklung der Gentherapie bei Hämophilie ein?
Ich denke, dass die Gentherapie für viele Hämophilie-Patienten sehr interessant ist. Ich glaube aber nicht, dass sie bisherige Behandlungen beziehungsweise die Gabe von Faktorpräparaten komplett ablösen wird. Vielmehr sehe ich die Gentherapie in Zukunft als ergänzende Behandlungsoption bei Hämophilie.
Vielen Dank Tanja, für deine Einschätzung und das spannende Interview. Wir sind gespannt, wie die Entwicklungen in Sachen Gentherapie bei Hämophilie weiter vorangehen werden. Hier auf HÄMOPHILIE & ICH halten wir Sie auf jeden Fall auf dem Laufenden.
Sie haben Fragen?
Als Fachapotheke für Hämophilie sind wir Ihr spezialisierter Ansprechpartner. Bei Fragen rund um die Hämophiliebehandlung oder medikamentöseversorgung stehen wir Ihnen gern per E-Mail, Telefon oder Kontaktformular zur Verfügung.
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